«Von mir aus könnt ihr die Kirche abreissen»

«Von mir aus könnt ihr die Kirche abreissen», meinte der junge Mann, der mit seinem kleinen Sohn unterwegs war an diesem Samstagnachmittag. Auslöser zu dieser Aussage war die Frage, was er über die Kirche denkt und wie sie sich in Zukunft gestalten soll. Eine heftige Aussage. Was hatte dieser Mann erlebt oder nicht erlebt, dass er so radikal mit der Institution Kirche Schluss macht?

Von Marianne Reiser

Es bleibt uns verborgen. Wir waren zu viert in Cham unterwegs, um das Leben zu beobachten und da und dort mit Menschen ins Gespräch zu kommen. Was halten sie von Kirche, diese Menschen, die da leben? Vom Bahnhof spazierten wir weiter Richtung See. Einfamilienhäuser mit Gärten. Ein Mann war mit Gartenarbeit beschäftigt. Wir zogen an ihm vorbei und sahen bald den Besen, den der Mann an seine Hecke gestellt hatte. «Was wird er wohl sagen, wenn ich ihm hier und jetzt helfe, das viele Laub zusammen zu nehmen?», so der spontane Gedanke von Toni. Toni dachte nicht nur, er setzte seinen Gedanken sofort in die Tat um.  Und so fand sich das Laub bald auf einem Haufen. Da kam der Eigentümer um die Ecke und schaute erstaunt auf Toni. Er lachte und meinte: «Sie behalte ich gerne, wenn sie hier weiter so fleissig arbeiten.» Das Zusammentreffen dieser zwei Männer wird mir augenblicklich zum sprechenden Bild: Wo Kirche – Kirche als Menschen – sich in ihrer Sendung für das Wohl der Menschen einsetzt, ist sie willkommen. Einfach. Pragmatisch.

Ein fröhliches Gespräch entwickelte sich und dieses Mal lösten unsere Fragen keine Abwehr aus. Doch auch für diesen Mann war klar: «Ich brauche die Kirche nicht. Auch zu Weihnachten nicht. Einzig, wenn ich eingeladen bin zu einer Taufe oder Beerdigung kommt es vor, dass ich eine Kirche betrete.» Auch wenn er die Kirche nicht braucht, empfindet er die katholische Kirche als eine starke Institution in unserer Gesellschaft. Wir verabschiedeten uns und zogen weiter. Die zwei Begegnungen beschäftigen mich.

Nach einer knappen Stunde kehrten wir an den Tagungsort in Hünenberg zurück. Auch die anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmer trafen nach und nach ein von ihrer Entdeckungstour. So wie wir unterwegs waren, so nahmen wir im Kreis wieder Platz. Markus Oelsmann und Carolin Kissling hörten aufmerksam gespannt zu, was wir zu berichten hatten. Lustig war zu hören, dass es für manchen Hünenberger Dinge zu sehen und zu hören gab, die völlig neu waren. Also nicht nur wir Auswärtigen wurden mit dem Leben vor Ort überrascht.

Am stärksten beeindruckten die Begegnungen, die in diesen Zeiten gemacht wurden. Die Gespräche, die gewagt wurden. Wieso tun wir das nicht öfters? Bald stand im Raum, dass gerade die Aussagen von Menschen, die wir in der Kirche kaum sehen, augenöffnend sind. Unseren Blickwinkel verändern. Und das war ja auch das Thema dieses Tages «Kirche neu sehen lernen – ein Perspektivenwechsel, damit Kirche weitergeht.

Der Besuch im Altersheim war diesbezüglich augenöffnend: ein Bazar fand statt und zog viele Menschen an. Reges Leben und überall die Möglichkeit, in Beziehung zu kommen. Eine der Entdeckergruppe wurde an diesen Ort gesendet. Sie setzten sich in der Cafeteria zu einer Bewohnerin des Altersheimes. Die Frau freute sich sehr, dass da Menschen waren, die sich für sie interessierten.  Oelsmann warf eine Frage in den Raum: War das eine Erfahrung von Kirche? Ich kann mich nicht erinnern, dass es eine eindeutige Aussage von uns gab. Und dennoch war eine Einigkeit im Raum zu spüren – ausgesprochen oder unausgesprochen – ja, das war eine Erfahrung von Kirche. Was für eine Perspektive eröffnet sich uns durch diese Erfahrung? Verändert das unser Denken und Handeln in der Pastoral?

Und da bekam die Aussage des jungen Mannes aus Cham und dem Hauseigentümer plötzlich Sinn für mich: Abreissen. Nicht die Erfahrung von Kirche. Das Abreissen gilt den starken, starren Strukturen von Kirche. Denn: sind es nicht die Strukturen, die mir den Blick versperren?

Dieser ganze Tag hat uns den Blick geweitet: Ich durfte Menschen sehen, die mit gleicher Sehnsucht und Leidenschaft unterwegs sind. Viele Fragen in sich tragen. Genauso wie wir. Wir erlebten Menschen aus der Pfarrei Hünenberg, die alles taten, damit es uns wohl war bei ihnen. Wir wurden durch Carolin Kissling und Markus Oelsmann mit grosser Sorgfalt durch den Tag geführt. Schritt für Schritt. Spielerisch, kreativ, humor- und lustvoll. Das Bibelwort von der Saat, die auf unterschiedlichen Grund fällt, wurde zur Inspiration und begleitete uns durch den Tag.

Wir Seebacher sind froh, dass wir uns diese Zeit ermöglicht haben. Da ist Vernetzung gewachsen und die Hoffnung gestärkt worden, dass Kirche Zukunft hat. Wohl immer dann, wenn wir zusammen raus gehen.

 

Zürich, 26.11.2017; Marianne Reiser

Bericht zum Download

Posted in asipa.ch, Lokale Kirchenentwicklung ZH-Seebach.