Kirche geht – wohin?

Rückblick auf 10 Jahre mit asipa.ch

Sei es unterwegs im Zug oder in einem Lokal, in jüngerer Zeit bekomme ich öfters zufällig kurze Konversationen über Glaube und Religion mit, die nach einem ähnlichen Muster ablaufen. Es fallen ein paar Bemerkungen z.B. über äussere religiöse Symbole, Gottesvorstellungen, Kirche und Gottesdienstbesuch, Jenseits oder nicht. Dann die einhellige Schlussfolgerung, dass jede und jeder privat das Seine glauben darf, solange Fundamentalisten nicht die öffentliche Ordnung stören. Dann ist das Thema abgehakt und auch die Kirche ad acta gelegt. Auffallend: Kein Wort über ein gemeinsam praktiziertes Christsein im Alltag. Wird heute in breiten Kreisen christlicher Glaube vor allem mit einer jenseitsorientierten Theorie mit sonntäglichem rituellem Treffen und Lehrsätzen verbunden? Und falls ja, wie kommt man davon los?

von Josef Wey

Christusmitte

Mein persönliches Aha-Erlebnis im Rahmen von asipa hatte ich an einem Impulstag mit Bischof Oswald Hirmer, dem «Geburtshelfer» des Bibelteilens: Die Christusmitte ist die Voraussetzung! Aus der Begegnung mit Jesus fliesst die alles transformierende Spiritualität. Kirche ist die Gemeinschaft jener, die sich um Jesus Christus versammeln, mit ihm und in seiner Sendung durch die Welt gehen und versuchen die Vision vom Reich Gottes zu vergegenwärtigen. Die Institution mit ihren Ämtern hat nur die Funktion, diese Sendung zu unterstützen, so wie Papst Franziskus immer wieder betont: Bischöfe, Priester etc. stehen im Dienste des Volkes Gottes.

KCG und Bibelteilen

Deutlich wurde, dass «Kleine Christliche Gemeinschaften» (KCG) ein Oberbegriff ist für eine Vielfalt von Formen, wie Christinnen und Christen zusammenkommen und auf Sendung gehen. Als eine «Best practice» hat sich die Grundform des «Bibelteilens in 7 Schritten» herauskristallisiert. Das Wort Bibelteilen ist allerdings eine dürftige Übersetzung des englischen «Gospelsharing», welches umfassend das Evangelium miteinander teilen und leben meint. Dieses Bibelteilen hat die Form einer Liturgie: Sich versammeln um Jesus Christus (1. Einstimmung), hören auf das Wort Gottes (2. Lesung, 3. persönliche Betroffenheit, 4. meditatives Schweigen, 5. Austauschen), gemeinsam im Lichte des Glaubens die Praxis reflektieren (6. Sehen-Urteilen-Handeln), in die Welt hinausgehen (7. Dank-Fürbitte-Segen), um dort vom Reich Gottes Zeugnis abzulegen. Eine überraschende Entdeckung: die Annäherung an die urchristlichen (Haus-)Gemeinden.

Abschied von einem gängigen Massstab

Der asipa-Impulstag vom vergangenen 18. November in Hünenberg brachte die gängige Gleichsetzung von «praktizierender Katholik = Sonntagsgottesdienstbesuch» endgültig ins Wanken. Diese kommt zwar selten mehr so plump daher, aber wo immer darüber geklagt wird, dass sich «die Kirchen leeren», oder gefragt wird, «wie wir die Leute wieder in die Kirche holen können», wird halt immer mit diesem Massstab gemessen. So gingen wir am Samstagnachmittag hinaus und entdeckten Kirche vor Ort anders, z.B.:

  • vor der Kirche eine fröhliche Blauring-Jugendgruppe;
  • bei der reformierten Kirche ein Gesangschor, der den zur Verfügung gestellten kirchlichen Raum nutzte, um sein rundes Jubiläum halböffentlich zu feiern;
  • im Altersheim eine Kapelle und Gespräche über Gott und das Leben;
  • und im Neubau-Quartier, das die Atmosphäre einer Schlafstadt ausstrahlte, keimte die Idee auf, eine Kirchenbank aufzustellen. Sich hinsetzen und vielleicht setzt sich dann jemand dazu, der das Bedürfnis verspürt über Gott und die Welt zu reden, d.h. seine Sorgen und Leiden, seine Freuden und Hoffnungen mit jemandem teilen möchte.

Partizipatorische Kirche wächst von unten

Christsein in KCG lässt sich überall realisieren. Ob die Pfarrei klein ist oder der Pastoralraum gross, spielt keine Rolle. KCG und Bibelteilen sind zudem eine ökumenische Chance: es gibt keine konfessionellen Hindernisse. Und jede Gemeinschaft von ChristInnen kann KCG sein oder werden: Seelsorgeteam, Verein, Vorstand, Jubla, Nachbarschaften, Mütter der Krabbelgruppe, Interessen- und Aktionsgruppen usw. Nämlich dann, wenn sie sich bewusst als JüngerInnenschaft begreift und ihren (Sendungs-)Auftrag im Lichte des Glaubens reflektiert.
Die Impulse zu dieser neuen Weise des Kircheseins sind vor allem aus den Kirchen des Südens zu uns gekommen, haben aber ihre Grundlegung in der Vision des Zweiten Vatikanischen Konzils von einer partizipatorischen Kirche. Es ist die Umsetzung von dem, was Karl Rahner unmittelbar nach dem Konzil prognostizierte: Die Kirche der Zukunft wird sich von unten her strukturieren in vielen kleinen Zellen, die das Reich Gottes verkünden und bezeugen. Jede und jeder hat ein Charisma; jedes Glied ist wichtig und auf die anderen angewiesen.

Neuer Wein in neue Schläuche

Gut Ding braucht Zeit, weil es sich hier um einen gemeinsamen Lernprozess aller Beteiligten handelt. Man muss jetzt das Alte nicht über den Haufen werfen und schon gar nicht die (Gottesdienst-)Angebote für die Seniorengeneration abschaffen, das soll man weiter ermöglichen. Und es geht auch nicht darum, ständig neue Angebote für Kirchendistanzierte zu suchen und zu kreieren, von denen man sich erhofft, «dass die Leute dann kommen». Sondern die Priorität der pastoralen Kräfte soll sich darauf richten, wo Neues keimt: Fragende und Suchende ernst nehmen, sie ermutigen und im Aufbruch begleiten. Dabei gedeiht junger Wein vor allem gut in neuen Schläuchen.

Global denken – lokal handeln – vernetzt vorgehen

Die Menschheit bildet eine Familie, Gott ist der Vater aller, die Mutter Erde ist unser gemeinsames Haus. Kirche geht darum nur im weltweiten voneinander lernen, füreinander beten, miteinander teilen. In dieser globalen Perspektive erhalten dann auch die pfarreilichen Sonntagsgottesdienste neu ihre gebührende Bedeutung als Mitte christlichen Gemeindelebens, werden dann aber menschengerechter, alltagsverbundener, jugendlicher und farbiger gestaltet sein.
Als Jesus durch Galiläa ging, sah er Menschen, die gekonnt ihre Netze knüpften, pflegten und auswarfen. Diese berief er als seine ersten JüngerInnen. Zweitausend Jahre später geht die gewachsene Weggemeinschaft als buntes Netzwerk von KCG und gemeindlichen Versammlungen im Kleinen bis zu überregionalen Events und globalen Kampagnen wie z.B. Kirchentagen, Weltjugendtreffen, ökumenische Bewegung für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung (GFS-Prozess), interreligiöse Friedensgebete im Geiste von Assisi …

Ausblick: Damit sie das Leben in Fülle haben

Den «Dialog des Lebens» führen, das heisst hinausgehen mit offenen Augen, Ohren und Händen. Ohne irgendwelche Hintergedanken mit interessierten Menschen ins Gespräch kommen, darüber wo sie der Schuh drückt und darüber wovon sie träumen. Räume bereitstellen, die Begegnung und Austausch ermöglichen. Wenn die Menschen wollen, sie beraten, begleiten, unterstützen. Dann aber auch vernetzen, periodisch im grösseren Rahmen zusammenkommen und – last but not least – das Gelungene miteinander feiern!
Das ist genau das grosse Anliegen von Papst Franziskus: «Brechen wir auf, gehen wir hinaus … Mir ist eine verbeulte Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Strassen hinausgegangen ist, lieber als eine Kirche, die aufgrund ihrer Verschlossenheit und ihrer Bequemlichkeit, sich an die eigenen Sicherheiten zu klammern, krank ist. Ich will keine Kirche, die darum besorgt ist, der Mittelpunkt zu sein … während draussen eine hungrige Menschenmenge wartet und Jesus uns pausenlos wiederholt: Gebt ihr ihnen zu essen!» (Evangelii gaudium 49).
So verwandelt sich die aus der Christusmitte fliessende Spiritualität in ein «Leben in Fülle für alle» – und dafür ist Gott Mensch geworden (Joh 10,10).

Josef Wey

Josef Wey ist vor zehn Jahren als Vertreter der Missionskonferenz zur Koordinationsgruppe von asipa.ch gestossen. Nach seiner Pensionierung (2017) ist er um einen persönlichen Rückblick für den asipa-Newsletter gebeten worden.
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